Wenn Stress krankt macht – Warum gesunde Pferde kein Zufall sind
Ein Pferd zeigt Stress lange, bevor wir ihn erkennen: gespannte Nüstern, flackernde Augen, angespannte Muskeln.
Was oft wie „Nervosität“ wirkt, ist in Wahrheit ein komplexer biologischer Ausnahmezustand – mit tiefgreifenden Folgen für Körper und Geist.
Stress beim Pferd verändert biochemische Abläufe, Denkprozesse und Verhalten.
Cortisol – das bekannte „Stresshormon“ – ist dabei nur die Spitze des Eisbergs.
Kurzfristiger Stress ist überlebenswichtig, doch dauerhafter Stress kann zu gesundheitlichen Problemen, Verhaltensauffälligkeiten und psychischer Erschöpfung führen.
🔬 Die physiologischen Grundlagen von Stress
Als Fluchttier reagiert das Pferd auf potenzielle Bedrohungen blitzschnell. In solchen Momenten sorgt der Körper durch die Ausschüttung von Cortisol und Adrenalin für eine rasche Energiebereitstellung. Die Durchblutung der Muskulatur steigt, das Immunsystem und die Verdauung treten in den Hintergrund – der Körper stellt auf Überleben um.
➡️ Kurzzeitiger Stress ist also kein Problem, sondern Teil eines gesunden Regulationssystems.
➡️ Dauerhafte Anspannung hingegen belastet den Körper und die Psychische nachhaltig
⚙️ Was im Körper passiert, wenn Stress zu lange anhält
Übersäuerung der Muskulatur – Spannung statt Losgelassenheit
Durch den erhöhten Cortisolspiegel werden Muskeln dauerhaft aktiviert. Sie arbeiten zunehmend anaerob, also unter Sauerstoffmangel. Dabei entsteht Milchsäure, die den Muskelstoffwechsel stört.
Die Folge: Übersäuerung der Muskulatur – sie kann sich nicht mehr vollständig entspannen, und der physiologische Wechsel zwischen An- und Entspannung bleibt aus.
Das Pferd wirkt „steif“, reagiert empfindlich auf Berührungen oder Hilfen und zeigt oft Abwehrverhalten, das fälschlicherweise als Widersetzlichkeit interpretiert wird.
In Wahrheit ist es Ausdruck körperlicher Überforderung.
Abbau von Eiweißstrukturen – Energie auf Kosten der Substanz
In länger anhaltenden Stressphasen stellt der Körper Energie bereit, indem er Eiweiß (Muskelprotein) abbaut und in Zucker (Glukose) umwandelt.
So wird kurzfristig Energie gewonnen – langfristig jedoch Substanz verloren.
Die Folgen:
Muskelabbau und Spannungsverlust in der Rumpf- und Tragemuskulatur
Geschwächtes Immunsystem, da auch Eiweiße für Abwehrprozesse fehlen
Verzögerte Regeneration nach Training oder Verletzungen
Der Körper lebt sozusagen „von der Substanz“, um den Stressmodus aufrechtzuerhalten – ein Zustand, der weder gesund noch nachhaltig ist.
Körperliche und seelische Erschöpfung – der dauerhafte Überlebensmodus
Bleibt der Körper über längere Zeit in Alarmbereitschaft, entsteht chronische Erschöpfung.
Das Pferd befindet sich dann im dauerhaften Überlebensmodus: Herzfrequenz und Muskeltonus bleiben erhöht, die Konzentrationsfähigkeit sinkt, und Regeneration ist kaum mehr möglich.
Die Pferde wirken „leer“, reagieren verzögert oder überempfindlich, zeigen Schreckhaftigkeit, Gereiztheit oder Rückzug.
Auch die Psyche leidet – das Pferd verliert die Fähigkeit, Situationen ruhig zu verarbeiten oder Neues zu lernen.
Dieser Zustand führt langfristig zu Burnout-ähnlichen Symptomen: körperliche Schwäche, reduzierte Leistungsbereitschaft, Verspannungen, häufige Erkrankungen oder Magen-Darm-Probleme.
Diese Mechanismen zeigen deutlich: Stress beim Pferd ist kein rein mentales Thema, sondern hat massive physiologische Auswirkungen.
Nur wenn Bewegung, Regeneration und emotionale Sicherheit im Gleichgewicht sind, kann der Körper wieder in einen gesunden Stoffwechselzustand zurückkehren.
🐎 Bewegung als natürlicher Stressausgleich
Pferde besitzen ein hochentwickeltes System, um Anspannung über Bewegung zu regulieren.
Bewegung baut Cortisol ab und fördert die Rückkehr in den Ruhemodus.

Deshalb ist ausreichende Bewegungsfreiheit essenziell – auf der Weide, im Training oder beim freien Spiel.
Bewegung ist kein Luxus, sondern Biologie – der Schlüssel, um Stress in Energie und Ruhe umzuwandeln.
🐴 Pferdetraining neu gedacht
Was wäre, wenn wir das natürliche Stress-Regulationssystem des Pferdes bewusst in unser Training integrieren würden?
Viele Trainingsansätze führen Pferde direkt in Situationen, die Angst oder Anspannung auslösen, und halten sie dort, bis sie scheinbar „akzeptieren“, was passiert.
Von außen wirkt das ruhig – in Wahrheit hat das Pferd jedoch gelernt: „Ich kann nicht entkommen.“
In diesem Moment wird Stress nicht abgebaut, sondern unterdrückt. Das Pferd resigniert, anstatt die Situation wirklich zu verarbeiten.
Kurzfristig entsteht Gehorsam, langfristig jedoch Verlust von Vertrauen und innere Anspannung.
Ein gutes, fein abgestimmtes Desensibilisierungstraining erkennt dagegen selbst kleinste Stresssignale und bietet dem Pferd Bewegung als Lösung:
Das Pferd darf sich vom Stressauslöser entfernen, Spannung abbauen und sich anschließend in seinem eigenen Tempo wieder annähern.
So entsteht ein Kreislauf aus Bewegung, Verarbeitung und Entspannung – an Stelle von Blockade und Überforderung.
Das Ergebnis: tiefes Vertrauen, echte Ruhe und Selbstwirksamkeit.
🌿 Fallbeispiel: Ein junger Wallach im Stress
Ein junger Wallach reagierte bereits auf kleinste Aufgaben mit massiver Abwehr: Verweigerung, Sturheit und lautstarke Reaktionen – alles deutliche Zeichen von Überforderung.
Zunächst galt er als „ungehorsam“ oder „widerspenstig“. Doch tatsächlich zeigte er körperlichen Stress und mentale Erschöpfung.
Erst durch gezieltes, respektvolles Training, das seine körperliche Verfassung und Grenzen berücksichtigte, konnte er lernen, Spannung abzubauen und wieder kooperativ mitzuarbeiten.
Dabei zeigte sich deutlich: Selbst die „richtige“ Übung kann im falschen Moment zu viel sein.
Gesundes, leistungsförderndes Training funktioniert nur, wenn Körper und Geist bereit sind.
⚠️ Erlernte Hilflosigkeit – das stille Warnsignal
Nicht jedes gestresste Pferd kämpft. Manche geben einfach auf.
Ein Pferd, das immer wieder überfordert oder widersprüchlich behandelt wird, lernt:
„Egal, was ich tue, es ändert nichts.“
Es zieht sich innerlich zurück, funktioniert nur noch mechanisch. Diese erlernte Hilflosigkeit ist ein stilles Warnsignal – ebenso alarmierend wie offene Abwehr, aber viel schwerer zu erkennen.

„Erlernte Hilflosigkeit“ wurde vom Psychologen Martin E. P. Seligman beschrieben.
Wiederholte, unvermeidbare negative Erfahrungen führen dazu, dass ein Lebewesen aufgibt – selbst dann, wenn es eine Möglichkeit zur Veränderung gibt.
Ursprünglich in der Humanpsychologie erforscht, findet das Phänomen auch bei Pferden deutliche Parallelen.
Ursachen und Mechanismen:
Viele Pferde erleben Hilflosigkeit, wenn sie keinen Einfluss auf ihr Umfeld haben:
- Widersprüchliche Hilfen oder unvorhersehbare Abläufe
- Dauerhafte Überforderung oder Zwang
- Fehlende Flucht- oder Pausenmöglichkeiten
- Traumatische Erfahrungen
Mögliche Anzeichen:
- Apathie
- verspannte Muskulatur
- Verdauungsprobleme
- fehlende Reaktionen auf Hilfen
- schwaches Immunsystem.
Ein Pferd, das auf Berührungen empfindlich reagiert, sich beim Putzen verspannt oder plötzliche Abwehr zeigt, wird oft als „sensibel“ oder „launisch“ beschrieben.
Doch häufig steckt chronischer Stress, Muskelverspannung oder ein gereizter Magen dahinter. Der Körper ist dauerhaft angespannt – nicht, weil das Pferd „nicht will“, sondern weil es nicht kann.
Eine Kundin erzählte mir von ihrer Stute, die sich plötzlich nicht mehr satteln ließ. Erst schien es ein Verhaltensproblem zu sein, doch tatsächlich litt die Stute unter Magenreizungen und schmerzhaften Verspannungen.
Mit gezielter physiotherapeutischer Unterstützung, ruhiger Bodenarbeit und kleinen Veränderungen im Alltag fand sie Schritt für Schritt zurück ins Gleichgewicht.
Der Weg zurück:
Wenn wir beginnen, genauer hinzusehen und die Signale des Pferdes ernst zu nehmen, entsteht Raum für Heilung.
Klare, vorhersehbare Strukturen, verständliche Kommunikation, positive Verstärkung und sichere Bezugspersonen helfen dem Pferd, Selbstwirksamkeit zurückzugewinnen
– also die Erfahrung: „Ich kann etwas bewirken.“
So kann Vertrauen wachsen, Anspannung weichen und echte Partnerschaft wieder entstehen.
Es geht nicht um Schuld, sondern um Verständnis – und um den Mut, gemeinsam neu anzufangen.
🌸 Ganzheitlich denken: Haltung, Training, Umfeld
Stress entsteht nicht nur im Training. Haltung, Fütterung und soziale Struktur beeinflussen die psychische Stabilität enorm.
Eine Wallach, der in einer unruhigen Herde lebte, zeigte chronische Verspannungen, wiederkehrende Koliken und Antriebslosigkeit. Erst als Herdenstruktur und Trainingsintensität angepasst wurden, konnte er wieder aktiv am Leben teilnehmen und sich sichtbar entspannen.
Dieses Beispiel zeigt: Gesundheitsförderndes Training beginnt bei den Lebensumständen. Nur wenn alle Bereiche – Haltung, Bewegung, Fütterung, Sozialkontakt – harmonisch zusammenspielen, kann das Pferd körperlich und mental gesund bleiben.
🤝 Bedürfnisse, Konsequenz und Respekt
Die Bedürfnisse des Pferdes zu sehen bedeutet nicht, ihm alles zu erlauben. Konsequenz entsteht nicht durch Druck, sondern durch Verlässlichkeit und Klarheit.
Klare Regeln geben Sicherheit – ständige Kontrolle oder Dominanz hingegen erzeugen Frust und Rückzug.
Ein Pferd soll mitarbeiten wollen, nicht aus Angst, sondern aus Vertrauen.
💬 Kommunikation und gegenseitiges Lernen
Pferde sprechen über Körper, Energie und Intention – nicht über Worte. Sie nehmen kleinste Veränderungen in unserer Haltung oder Stimmung wahr. Wer lernt, diese Sprache zu verstehen, kann Stress vermeiden und auf Augenhöhe kommunizieren.
Oft liegt das Problem nicht in der Methode, sondern darin, dass wir dem Pferd zu wenig Raum zum Mitdenken lassen. Wir können Impulse setzen – aber verstehen und umsetzen muss das Pferd selbst. Unsere Aufgabe ist es, zuzuhören, zu beobachten und geduldig zu begleiten.
Wenn wir Pferden Zeit und Vertrauen schenken, entwickeln sie die Fähigkeit, selbstständig zu lernen und Verantwortung für ihre Bewegungen zu übernehmen. So entsteht echte Partnerschaft – körperlich und mental.
🧭 Fehlerkultur und Lernprozesse
Fehler gehören zum Lernen – für Mensch und Pferd. Sie schaffen Vertrauen, wenn wir sie als Teil des Prozesses akzeptieren.
Ein gesundes Training berücksichtigt die individuellen Stärken und Schwächen jedes Pferdes. Es fordert, ohne zu überfordern. Das Pferd zeigt uns durch seine Reaktionen, wie weit wir gehen können – es ist unser Kompass.
Ein Beispiel: Eine junges, bewegungsfreudiges Pferd mit noch unsicherer Balance profitiert nicht von strengem Longentraining. Freies Arbeiten auf wechselndem Untergrund fördert Körperwahrnehmung und Motivation. So entsteht Entwicklung durch Förderung, nicht durch Druck.
✨ Fazit

Stress gehört zum Leben jedes Pferdes – er ist nicht grundsätzlich schlecht, sondern Teil eines natürlichen Schutzsystems.
Erst wenn er chronisch wird, verliert er seine positive Wirkung
Die Kunst liegt darin, achtsam damit umzugehen: Stress zu erkennen, aufzufangen und in gesunde Bahnen zu lenken.
Wer die physiologischen, psychischen und sozialen Zusammenhänge versteht, kann Training gestalten, das Vertrauen stärkt, Stress reduziert und echte Partnerschaft ermöglicht – die Basis für nachhaltige Gesundheit und ein harmonisches Miteinander.
💚 Möchtest du mehr darüber erfahren, wie du dein Pferd körperlich und mental unterstützen kannst?
Auf meiner Website findest du Informationen zu meiner Arbeit in der Pferdephysiotherapie und gesundheitsfördernden Bodenarbeit – für ein Training, das stärkt, statt zu überfordern.